Erkenne Deine Kraft
Die Sonne fing gerade an unterzugehen und eine leichte Brise zog durch die Baumkronen, als der junge Tiger ruhig und anmutig über das Feld schritt. Es ist noch nicht lange her, dass er sich von seiner Mutter gelöst hatte, um ein eigenes Revier zu finden. Und nun, da er es gefunden und erkämpft hatte war ihm klar, so leicht würde er es nicht wieder hergeben.
Die anderen Tiger verhöhnten ihn für den Entschluss, so schnell ein eigenes Revier zu schützen, sie hielten ihn für zu unerfahren. Doch er war sich sicher, dass er an dieser Aufgabe wachsen und reifen würde. Noch nicht alle Tiere in dieser Gegend erkannten ihn an oder wussten gar, dass sie nun unter seiner Führung lebten.
Und als er nun stehen blieb, seinen Blick vom Horizont aus über sein neues Zuhause schweifen ließ, sah er, wie ein einsames Gnu auf ihn zutrabte.
„Hey, Tiger! Ich dachte, du wärst nun der neue Leiter dieser Gegend!“, rief er bereits von Weitem.
„Und das bin ich auch!“, antwortete der Tiger und setzte sich in Bewegung, um ihm ein wenig entgegenzukommen.
„Kannst du mir dann erklären, warum eines meiner Herdentiere am anderen Ende des Reviers einfach verschwunden ist?“, meinte der Gnu provozierend.
Etwas verdutzt blieb der junge Tiger auf halber Strecke stehen, versuchte aber sich nichts anmerken zu lassen.
Doch das Gnu schien ihn sofort zu durchschauen. „Wenn du dich schon dazu entschließt, über ein Revier zu herrschen, solltest du es auch anständig verteidigen können!“, und mit diesen Worten macht er auf der Stelle kehrt und verschwand im angrenzenden Wald.
„Das kann doch nicht wahr sein! Das ist mein Revier, das ist mein Volk und ich habe mir geschworen es zu beschützen!“, murmelte der Tiger.
Und wie er losging, um sich ein Bild von den Grenzen seines Territoriums zu machen, sprang eine Antilope an ihm vorbei.
„Moment, warte mal!“, rief der Tiger.
„Was ist? Kann ich dir helfen?“, meinte die Antilope etwas scheu.
„Weißt du etwas von dem Verschwinden eines Gnus innerhalb der Grenzen?“.
„Nicht viel“, entgegnete das Tier „aber man munkelt, dass ein anderer Tiger dir das Revier streitig machen will. Oder zumindest um einiges verkleinern. Mehr weiß ich leider auch nicht.“
Der Tiger runzelte die Stirn und machte sich umso schneller auf den Weg zur Grenze. Als er dort angekommen war, legte er sich ruhig und majestätisch auf die Lauer. Er wollte nicht sofort losspringen, sobald er einen anderen Tiger sah, sondern sich erst einen Überblick beschaffen, die Gefahr einschätzen und dementsprechend handeln.
Doch nachdem es dunkel geworden war und er tatsächlich in einem Busch einen anderen Tiger erkennen konnte, schaltete sich sein Beschützerinstinkt ein und ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, sprang er auf und auf den anderen Tiger zu.
Durch den Angriff sichtlich verschreckt, wand sich die Tigerdame aus seinem Griff, zog sich einige Meter zurück und fauchte verärgert.
„Das ist mein Revier! Such dir dein eigenes und wag es ja nie wieder einem meiner Tiere zu schaden!“, knurrte der Tiger.
„Für wen hältst du dich eigentlich? Dieses Territorium ist viel zu groß für nur einen Tiger und erst recht für so einen jungen. Schau dir nur mal meines an! Es ist nicht mal halb so groß wie deines“, antwortete sie.
Der Tiger bäumte sich auf und eine starke autoritäre Aura umgab ihn. „Das ist nicht mein Problem und nicht meine Schuld. Ich weiß es zu verteidigen. Wenn du ein größeres Revier willst, dann baue es woanders aus oder erkämpfe dir ein neues. Aber setze nie wieder einen Fuß in meines!“, sprach der Tiger aus während seine Augen majestätisch und selbstsicher funkelten.
Mit einem großen Satz sprang die Tigerdame auf ihn zu und riss ihn mit sich einen kleinen Hang hinunter. Ohne groß nachzudenken, wand sich der Tiger so, dass er auf dem harten Boden aufprallte, während die Tigerdame unversehrt blieb.
„Das ist genau das was ich meine!“, lachte sie, als sie sich aufrappelte, „Du kannst ein Territorium nur verteidigen, wenn für dich deine eigene Gesundheit immer an erster Stelle steht. Denk mal drüber nach!“.
„Ich denke eben als Erstes immer an das Wohl der anderen, bevor ich an meines denke. Das macht mich nicht zu einem schwächeren Herrscher, sondern zu einem umso stärkeren. Denk du mal darüber nach“, verteidigte sich der Tiger, während er sich sichtlich außer Atem aufsetzte.
Beeindruckt von seiner Aussage schlich sie auf ihn zu. „Lass uns ein Bündnis schließen! Wir verbinden unsere beiden Territorien, herrschen gemeinsam. Sicherlich kannst du noch was von mir lernen und ich vielleicht das ein oder andere von dir“, schlug sie vor.
Doch der Tiger wand ihr den Rücken zu und entgegnete nur noch über seine Schulter: „So leicht kann man mich nicht zähmen. Ich weiß, was rechtmäßig mir gehört und ich weiß es zu verteidigen. Komm wieder, wenn du reifer bist, dann können wir nochmal verhandeln. Bis dahin: Halte dich von mir und meinen Tieren fern und lerne deine Macht zu kontrollieren, nicht um deinetwillen aber zum Wohle der anderen. Das macht einen Herrscher aus.“