Geschichtenkiste

Krafttier Schildkröte

Geschichtenkiste - Krafttier Schildkröte

Leben asserhalb des Panzers

Klopf – Klopf – Klopf, machte es am Rücken der Schildkröte. Und nochmal: Klopf – Klopf – Klopf. Die Schildkröte im Inneren des Panzers rollte sich noch viel kleiner zusammen, sodass man meinen könnte, es wäre niemand zu Hause. „Hallo, Kleines. Ich weiß, dass du da drinnen bist.“ Dieser Satz strömte durch das offene Loch des Panzers und erreichte gerade noch ihre Ohren. Die Stimme klang freundlich und sanft. Trotzdem wagte es die Schildkröte nicht, sich zu bewegen.

Die Worte außerhalb des Panzers wollten aber nicht verklingen. „Ich beobachte dich schon eine Weile. Erst dachte ich, du wärst tot, weil du schon so lange an derselben Stelle sitzt. Aber letzte Nacht habe ich gesehen, dass du eine Schnecke gefressen hast. Möchtest du nicht herauskommen, damit ich weiß, dass es dir gut geht?“

Wer war das? Diese Stimme klang wirklich so, als würde sie sich Sorgen machen. Irgendwie kam in der Schildkröte eine Neugierde auf, wer den wohl so hartnäckig vor ihrem Schutzpanzer Stellung bezogen hatte. „Nur, dass du es gleich weißt, ich komme hier sicher nicht heraus“, sagte die Schildkröte trotzig. Aber vor lauter Neugier schob sie noch ein „Wer bist du überhaupt?“ hintendrein.

„Ich bin einer deiner Art. Ein Krafttier“, hörte sie wieder zu sich durchdringen. „Warum kommst du nicht heraus?“, fragte der unbekannte Besucher. „Weil ich mich fürchte. Da Draußen ist es zu gefährlich. Hier in meinem Panzer bin ich geschützt“, antwortete die Schildkröte.

„Du fürchtest dich?“, fragte der Besucher erstaunt. „Wovor fürchtest du dich denn?“ „Vor allem! Vor dir, vor dem Wasser, vor der Luft, einfach vor allem!“,erwiderte die Schildkröte nach draußen. „Aber vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Hier ist gar nichts, wovor du dich fürchten müsstest“, bekam sie wiederum als Antwort. „Das sagst du nur so. Wie kann ich dir glauben?“, fragte sie. „Indem du mir vertraust und dich selbst davon überzeugst. Warum fürchtest du dich so sehr?“

Die Stimme klang so besorgt und sanft, dass die Schildkröte zu erzählen begann: „Es war am Tag meiner Geburt. Ich hatte gerade die letzte Schicht von meinem Ei hinausgedrückt, da drangen warme, helle Sonnenstrahlen zu mir durch und kitzelten meine Nase. In der Ferne hörte ich das rufende Rauschen der Wellen, ich roch die salzige Luft und ich wollte mich voller Lust in das Wasser werfen und mit der Meeresströmung auf Reisen gehen. Endlich hatte ich die ganze Schale abgeworfen und rannte, so schnell ich konnte, voller Vorfreude auf das Wasser zu.

Plötzlich waren große Schatten über mir. Diese hatten spitze Schnäbel und Krallen und sie hackten auf mich hinab. Ich sah, wie sie neben mir und vor mir meine Geschwister packten und mit ihnen davon flogen. Endlich hatte ich die erste Welle erreicht und ich ließ mich von ihr davontragen. Irgendwann setzte mich das Meer hier an diesem Platz ab. So viele haben es nicht geschafft. Und um mich zu schützen, bleibe ich lieber hier in meinem Panzer.“

Einige Zeit war es still, dann hörte die Schildkröte wiederum die Stimme: „Ich verstehe dich. Das Leben ist voller Gefahren. Aber das Leben ist da um gelebt zu werden.“ „Ich mag das Leben nicht!“, zischte es aus dem Panzer. „Das Leben ist einsam, dunkel und uninteressant.“ Nachdem sie das gesagt hatte, drang ein Lachen von außen an ihr Ohr. „Das Leben geschieht aber hier. Außerhalb deines Panzers. Hier gibt es keine Einsamkeit, keine Dunkelheit, und jeder Tag trägt ein neues Abenteuer und neue Eindrücke in sich. Wenn du nicht sterben willst, dann musst du jetzt leben!“.

Diese Worte erreichten die kleine Schildkröte in ihrem Herzen und wie damals, am Tag ihrer Geburt, steckte sie den kleinen Kopf nach langer Zeit wieder der Sonne entgegen. Die Sonne kitzelte ihre Nase und sie hörte die Wellen, die nach ihr riefen, und sie roch das Salz, welches die milde Meerespriese ihr zutrug. Und als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah sie ihn. Da spürte sie das Leben durch ihre Zellen fließen, und was in ihr dunkel und sterbend war, wurde vom Licht der Liebe und der Freude erfüllt. Gemeinsam setzten sie einen Fuß vor den anderen und ließen sich von den Wellen umarmen, die sie zärtlich mit sich davon trugen.